Negrellisteg: Ein historischer Brückenschlag

Foto: Nico­le Soland – PS Zeitung

Die­se Woche eröff­nen Stadt und SBB ein gemein­sa­mes Bau­werk: Den Negrel­li­steg, eine Fuss­gän­ger­brü­cke über das Gleis­feld zwi­schen Euro­pa­al­lee und dem obe­ren Kreis 5 – eine erfreu­li­che, wenn auch beschei­de­ne Wie­der­gut­ma­chung eines uralten Sün­den­falls der Stadtentwicklung.

Bei­trag von Han­nes Lindenmeyer
Prä­si­dent der Orts­ge­schicht­li­chen Kom­mis­si­on des Quar­tier­ver­eins Aussersihl-Hard

172 Jah­ren nach der Eröff­nung der Spa­nisch Bröt­li Bahn von Zürich nach Baden wer­den die bei­den seit­her getrenn­ten Tei­le der eins­ti­gen Gemein­de Aus­ser­sihl an einem wich­ti­gen Ort  mit­ein­an­der ver­bun­den. Die Aus­ser­sih­ler hat­ten sich damals wohl kaum vor­ge­stellt, dass das ers­te Gleis im Sihl­feld nach rund 20 Jah­ren zu einer 250 bis 500 Meter brei­ten, unüber­wind­li­chen  Gleis­wüs­te anwach­sen wür­de, die ihr Gemein­de­ge­biet voll­stän­dig zwei­teil­te. Wäh­rend ande­re euro­päi­sche Städ­te Hoch­bah­nen kon­stru­ier­ten, unter deren Via­dukt­bö­gen die inner­städ­ti­schen Ver­bin­dun­gen erhal­ten blie­ben, haben die Eisen­bahn­ba­ro­ne kei­ne Rück­sicht auf die Lebens­ver­hält­nis­se in der armen Vor­ort­ge­mein­de Aus­ser­sihl genom­men. Erst 1890 wur­den die Lini­en nach Örli­kon und ans rech­te Zürich­see­ufer auf den Aus­ser­sih­ler- und den Let­ten­via­dukt ver­legt, aus rein bahn­tech­ni­schen Gründen.

Getrennte Quartiere

Der Negrel­li­steg hat einen Vor­gän­ger: Die Seuf­zer­brü­cke. An der Stel­le des jetzt ein­ge­weih­ten Stegs stand 1936 eine Pas­s­a­rel­le mit einem „Befehls­stell­werk“ – das am ers­ten Tag voll ver­sag­te, die ein­fah­ren­den Züge blie­ben drei Stun­den ste­hen – drum: Seuf­zer­brü­cke. Die­se Pas­s­a­rel­le war natür­lich nur für Bahn­per­so­nal benütz­bar. Die tau­sen­den von Pas­san­ten die täg­lich zwi­schen den getrenn­ten Stadt­tei­len zir­ku­lier­ten, muss­ten sich jah­re­lang an einer Rei­he von Bar­rie­ren, die die ver­schie­de­nen Glei­se sicher­ten, gedul­den – erst um 1890 mach­te die Unter­füh­rung die Lang­stras­se durchgängig. 

In die­ser Unter­füh­rung quäl­te der wach­sen­de Auto­ver­kehr die Fuss­gän­ger zuneh­mend mit Luft und Lärm. Das war auch der Name der Quar­tier­grup­pe, die ab 1977 in der Unter­füh­rung pro­tes­tier­te, anfäng­lich mit einer Gas­mas­ken­ak­ti­on, spä­ter mit Stras­sen­thea­ter, schliess­lich mit einem Aus­ser­sih­ler Sech­se­läu­ten. Ihr Erfolg: Die zwei Beton­röh­ren, in der heu­te der täg­li­che Nah­kampf zwi­schen Fuss- und Velo­volk und E‑Bikerasern aus­ge­foch­ten wird.

Nun bie­tet der neue Negrel­li­steg einen beque­men, aus­sichts­rei­chen Über­gang bei guter Luft, unter frei­em Him­mel. Aller­dings nur für Fuss­gän­ger und Veloschie­ber. Das ers­te, 2011 preis­ge­krön­te Pro­jekt von Flint&Neill, Lon­don, hat­te eine für Velo befahr­ba­re Kon­struk­ti­on mit beid­sei­ti­gen Ram­pen vor­ge­se­hen. Das hoch­ele­gan­te Pro­jekt hät­te sich den ein­fah­ren­den Zug­pas­sa­gie­ren als strah­len­de Visi­ten­kar­te der Stadt gezeigt. Klar, mit 11 statt 30 Mil­lio­nen muss auf Glanz ver­zich­tet wer­den. Immer­hin hat auch der jet­zi­ge  Negrel­li­steg etwas Schwung, lei­der bricht der an den bei­den Enden abrupt ab. Aber Haupt­sa­che: Er verbindet. 

Ehre für Alois Negrelli

Negrel­li ist er geweiht: zu recht! Dem ita­lie­ni­schen Inge­nieur, der vor mehr als 200 Jah­ren für Zürich die ers­te Stein­brü­cke über die Lim­mat und die  bis heu­te schöns­te Brü­cke der Stadt kon­zi­piert hat. Sein neu­er Steg star­tet bei Gus­tav Gull, dem gros­sen Stadt­bau­meis­ter und bei Robert Ste­phen­son, dem Erfin­der der Eisen­bahn und dem Vater des schwei­ze­ri­schen Eisen­bahn­net­zes. Und wo endet der Steg? An der Zoll­stras­se. Wie banal und ernüch­ternd nach so gros­sen Namen!

Und die Frauen und Kinder?

Die Quar­tier­ver­ei­ne Indus­trie­quar­tier und Aus­ser­sihl machen einen Vor­schlag. Am Fus­se der Trep­pe gibts ein schö­nes neu­es Plätz­chen, bis jetzt namen­los. Inge­nieu­re und Bau­meis­ter wur­den schon geehrt, Brü­cken und Bah­nen gewür­digt. Es wäre Zeit an die Men­schen zu den­ken: An die Frau­en und Kin­der. Mit einem ent­spre­chen­den Namen für das neue Plätz­chen lässt sich das nach­ho­len. Es gibt eine his­to­ri­sche Per­sön­lich­keit die Gene­ra­tio­nen von Kin­dern das Leben der Kin­der in den dunk­len Anfangs­zei­ten des Indus­trie­zeit­al­ters in einer ergrei­fen­den Kin­der­ge­schich­te nahe­ge­bracht hat. Sie war Leh­re­rin im Let­ten­schul­haus und ist mit ihren Schul­klas­sen oft der Sihl ent­lang spa­ziert: Olga Mey­er. Mit dem „klei­nen Mock“ hat sie das Kin­der­le­ben in der Stadt geschil­dert, als hier in Aus­ser­sihl noch bit­te­re Armut herrsch­te. Olga Mey­er hät­te es ver­dient, dass sie an die­sem Plätz­chen im eins­ti­gen Indus­trie­quar­tier geehrt wür­de, in Geden­ken an die tau­sen­den Kin­der die ein har­tes Leben in der Früh­zeit der Indus­trie­ali­sie­rung nicht nur im Zür­cher Ober­land – dort wo ihr „Anne­li“ spielt – son­dern auch im Arbei­ter­vier­tel Aus­ser­sihl erlit­ten haben. Die Quar­tier­ver­ei­ne haben zur Eröff­nung des Negrel­li­stegs eine ent­spre­chen­de Ein­ga­be an die Stras­sen­be­nen­nungs­kom­mis­si­on eingereicht.

Pro Memoria

Noch immer war­ten die bei­den Quar­tie­re auf die ande­re längst ver­spro­che­ne Wie­der­gut­ma­chung: Die Voll­endung des Let­ten­via­dukts von der Josefs­wie­se zur Hohlstrasse. 

Han­nes Lindenmeyer
Prä­si­dent der Orts­ge­schicht­li­chen Kom­mis­si­on – Quar­tier­ver­ein Aussersihl-Hard